Schlagwörter
Demut, Erblindung, Leben, Lebensqualität, Teilhabebeeinträchtigung, Unterstützung

Was zum Paradiesvogel nochmal ist denn nun schon wieder los? Warum passiert das immer nur mir oder passiert das immer nur mir oder warum gerade ich schon wieder?… Fragen, die fragen und das suchen nach Antworten, die sich nach Blindekuhmanier in der Pampas meiner Gedanken verstecken. Die Lorelei besang schon damals auf dem schönen Rheinfelsen: „Ich weiß nicht, was soll das bedeuten?“, eine vertonte Lyrik von Heinrich Heine. Wenngleich ich auch die Traurigkeit, die in diesem Lied besungen wird, nicht teile, dann kann ich aber zumindest den ersten Satz blind unterstreichen und mit mir und manchmal mit meiner obskuren Tollpatschigkeit teilen.
Nun merke ich so langsam, dass ich mal wieder verdächtig in meiner Geschichte abschweife, in der Weltgeschichte meines Gehirns herumreise und komme mal wieder besser auf den Punkt zurück. Zu den Dingen, die ich euch und mir erzählen möchte *lächel*
Neulich und so wie jeden Morgen ist mein zweiter Weg der ins Badezimmer um nicht nur meine Gedanken zu wecken, sondern um meinen Körper von den Altlasten der vergangenen Nacht zu befreien. Das heißt, ich gehe duschen um mich dann erfrischt und wach dem Tag mit all seinen Erlebnissen, die er für mich bereit hält, zu stellen. Ein Ritual wohl, welches für viele von uns am Morgen normal ist.
Normaler Weise funktioniert das auch ganz reibungslos und ich werde zumindest dort nicht schonungslos von meiner sporadischen Tollpatschigkeit überfallen.
Ich stand also nichtsahnend, dass ich bald auch nichtsehend werde, unter der Dusche um die notwendigen Hygienebehandlungen zu tätigen. Immer schön warm und nicht zu heiß, prasselte das Wasser munter durch die Brause. Bis dahin war noch alles prima, bis ich plötzlich merkte, dass ich eines meiner Sinne beraubt wurde. Ich sah nichts mehr, „nada, niente und gar nix mehr“. Hatte ich doch beim Entkleiden vergessen, auch meine Augengläser abzulegen und es tatsächlich erst beim Erblinden bemerkt.
Der Wasserdampf legte sich so einfach frech auf meinen Durchblick, so dass ich fortan blindmanierlich auf andere Sinne ausweichen musste, um mein Morgenwerk zu vollenden. Die Brille einfach ablegen, ging nicht so einfach, da ich nicht wusste, wohin, ohne die Gefahr, dass sie zu Bruch gehen könnte. Also musste ich dadurch, ob ich wollte oder auch nicht. Die benötigten Schaumprodukte habe ich tastender Weise auch gefunden. Es hat also letztendlich alles funktioniert und ich bin der Dusche auch sauber entstiegen.
Nun wäre ich ja nicht ich, wenn ich nicht schon wieder diverse Gedankenvergleiche zu meinem Berufsfeld ziehen würde. In meinem Berufsfeld der Heilerziehungspflege haben wir u.a. auch mit Menschen zu tun, welche aus den unterschiedlichsten Gründen ihr Augenlicht teilweise oder auch ganz verloren haben, bzw. nie besessen haben.
In meinem Berufsalltag im Bereich des ambulant betreuten Wohnen haben wir derzeit niemanden, der erblindet ist. Während meiner Ausbildung zur HeilerziehungspflegerIn habe ich ein achtwöchiges Praktikum im stationären Bereich eines Wohnhauses für MmB unseres Trägers absolviert, in der eine Frau wohnt, die zu fast 100% ihrer Sehkraft verloren hat.
In den meisten Fällen wird eine Erblindung im Laufe des Lebens erworben. Diese Frau, nennen wir sie hier mal Annika, im Wohnhaus hat zusätzlich zur Erblindung weitere Einschränkungen, die sie am Führen eines Lebens mit allen Sinnen hindern und sie auf Unterstützung angewiesen ist. Neben den geistigen Einschränkungen sind da noch Schwerhörigkeit und der Sprachverlust. Wenn Annika etwas äußern möchte oder braucht, lautiert sie. Manchmal, wenn sie wütend ist, passiert das auch schon mal ganz schön laut. Da heißt es, selbst Ruhe bewahren um sie wieder zu beruhigen und herausfinden, was sie stört. Wenn Annika zufrieden ist, dann braucht sie auch mal, wie ein jeder von uns, eine Umarmung oder ein freundliches Wort. Es dürfen derer auch schon mal ein paar mehr Worte sein *lächel*. Auf alle Fälle benötigt man eine Menge Fingerspitzengefühl, um der sensiblen Annika Zufriedenheit schenken zu können.
Während meiner Praktikumszeit habe ich Annika oft am Morgen geweckt und mit ihr die tägliche Routine der Hygienemaßnahmen durchgeführt. Ich bin leise in ihr Zimmer und habe sie mit ruhiger, in der Lautstärke angepassten Stimme angesprochen, wie sie geschlafen hat und das es nun Zeit fürs Aufstehen sei. Dabei habe ich ihr die Hand auf die Schulter gelegt, damit sie spürt, dass jemand da ist und bin dann zum Fenster und habe die Rollos hochgezogen. In der Zeit habe ich mich mit ihr unterhalten und erzählt, was als nächstes ansteht, habe ihr in die Pantoffeln geholfen und ihr beide Hände gereicht, um ihr aus dem Bett und auch ins Bad zu helfen. Dort half ich ihr auf die Toilette, damit sie ihr „Morgengeschäft“ erledigen konnte.
Nachdem sie sicher saß, bin ich für etwa 5 Minuten aus Gründen der Privatsphäre aus dem Raum gegangen und habe in der Zeit die frische Kleidung für Annika herausgesucht. Manche Kleidungsstücke auch im Doppelpack, damit sie ertasten und auswählen kann, ob sie heute den besonders flauschigen Pulli oder die Baumwollbluse anziehen möchte. So erhält man zumindest ein ganz klein wenig das Recht, selbst entscheiden zu dürfen.
Nach einer kurzen Weile klopfte ich an die Badezimmertüre, fragte ob sie mit der Morgentoilette fertig sei. Wenn sie mir dann die Arme entgegenstreckte, war dies ein eindeutiges „Ja“ und ich half ihr beim Aufstehen und Auskleiden. Beim Duschen habe ich in kleinen Schritten erklärt, was nun als nächstes kommt. Die richtige Wasserwärme hat sie mit der Hand vorgefühlt, bevor ich ihr ganz unters Wasser half. Ich sagte ihr, welches Körperteil ich als nächstes wasche. Für die Intimstellen gab ich ihr einen Waschlappen und habe sie beim Waschen angeleitet. Das hat Annika recht gut auch selbstständig durchführen können. Sie benötigte nur klare Ansagen dazu.
Das gleiche Prozedere lief dann auch beim Zähneputzen und Haare föhnen am Waschbecken ab. Das Anziehen erfolgte danach. Zum guten Schluss erhielt Annika noch ein paar Sprüher ihres Lieblingsduftes und ich half ihr dann in den Aufenthaltsraum zum Frühstück. In den Wochen meines Praktikums im Wohnhaus haben Annika und ich ein ganz gutes Vertrauensverhältnis aufbauen können. Sie erkannte meine Stimme und ließ sich ohne Probleme auf die Zusammenarbeit ein.
Die Zeit und das zweimonatige Praktikum im stationären Bereich unseres Trägers haben mir unheimlich Spaß gemacht und haben mich noch ein wenig mehr Demut gelehrt.
Da sind Menschen, die ihr Leben mit all den Bürden, die ihnen das Schicksal auferlegt hat, mit Bravour meistern und dabei mit so wenig zumeist zufrieden sind. Dafür schon alleine lohnt es sich für mich, jeden Morgen aufzustehen, anderen zu helfen und sie zu unterstützen, soviel Lebensqualität wie möglich zu erhalten.
Dabei bin ich selbst nur ein winzig kleines Zahnrädchen im riesengroßen Uhrwerk der Lebensmaschinerie.
Euch allen wünsche ich einen wundervollen und besinnlichen 2. Advent! Bleibt gesund und passt gut auf euch und eure Lieben auf ❤