
Angst zu haben, ist uns von der Natur und unseren Instinkten gegeben. Sie ist, sofern sie im Rahmen der Natürlichkeit bleibt, sogar als sehr nützlich und positiv in unserem Erfahrungsschatz enthalten. Angst ist ein Urinstinkt, der uns vor Gefahren schützen soll. Wir lernen den Umgang damit schon in der frühen Kindheit. Sie gehört sozusagen zu unserer genetischen Grundausstattung. Angst hilft uns dabei, um uns in einer riskanten Situation aktiv zu schützen. Wann immer wir etwas als bedrohlich empfinden, wird unser Organismus in Alarmbereitschaft versetzt und unterstützt uns dabei, die jeweilige Lage besser einzuschätzen und zu bewältigen.
Die körperlichen Anzeichen, wenn unser Körper Angst signalisiert, sind vielfältig. Das Herz rast und wir haben das Gefühl, unter Hochspannung zu stehen. Zuweilen stockt der Atem und treibt unsere Steuerzentrale dazu, schnell eine Entscheidung zu fällen, um aus der Gefahrenzone zu entfliehen. Wenn wir ohne diese Ängste wären, würden wir uns immer wieder in Gefahren begeben und Raubbau mit unseren Kräften betreiben, vielleicht sogar Risiken eingehen, aus denen es keine Wiederkehr gibt. So hält uns wahrscheinlich auch der gesunde Menschenverstand davon ab, z.B. riskante Fahrmanöver zu starten. Ohne unsere Ängste und die „Bremsmöglichkeit“ des Gehirns sowie die des Autos, würden die Unfallstatistiken rasant in unermessliche Höhen steigen.
Heute möchte ich euch von einer weiteren Klientin erzählen, bei der Ängste die ständigen Begleiter sind und sie fest im Schraubgriff gefangen halten.
Diese Klientin nennen wir mal Berta.
Ich begleite Berta (64J.) im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens nun seit knapp 3 Jahren als Bezugsbetreuerin. Berta wohnt mit ihrem Partner zusammen, der ebenfalls aufgrund von Depressionen von einem Kollegen betreut wird. Bei Berta sind neben den verschiedenen Formen von Angstzuständen auch eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Das erschwert die gemeinsame Arbeit an den Zielen, die Berta gerne erreichen möchte, umso mehr und hemmt den Prozess immer wieder aufs Neue.
Berta hat lt. ihren Aussagen eine gute Kindheit genossen, mit einem funktionierenden Elternhaus und zwei Brüdern, beide jünger. Berta hat eine abgeschlossene Ausbildung als Bürokauffrau und interessiert sich sehr für Naturheilverfahren, ist ein wenig esoterisch und glaubt an den Mondkalender. Sie hat eine gewählte Aussprache, was mich zu Beginn ein wenig irritiert hat, da die Aussprache nicht ganz mit dem äußeren Erscheinungsbild zusammenpasste. Sie versucht, sich so gut wie eben möglich, zu pflegen. Das funktioniert nicht regelmäßig. Dabei passiert es auch öfter, dass sie wochenlang keine Hygienemaßnahmen durchführen kann.
Die Kraft und Motivation hierfür wird oft zum Bewältigen ihrer Ängste und Wahnvorstellungen aufgebraucht. Sie hat das Gefühl, dass sie im Haus abgehört wird. Selbst vom Kindergarten nebenan hört sie Stimmen. Die Kinder unterhalten sich über sie und planen, sie aus dem Haus zu vertreiben. Im Treppenhaus hört sie Getuschel und auf der Straße hängen Plakate mit Diffamierungen aus. Die Wohnung ist abgedunkelt, an den Fenstern stehen einige Pflanzen, die zum Teil vertrocknet sind, da sie sich in ihrer Angst vor Beobachtung nicht traut, ans Fenster zu treten, um diese zu gießen. Dazu hat Berta noch ganz große Angst vor offenen Räumen. Bis jetzt haben wir es zumindest geschafft, dass die Wohnzimmertüre offen stehen kann, wenn ich bei ihr bin. Die Wohnungstüre muss ihr Lebenspartner öffnen, mich herein- und nach dem Termin wieder herauslassen.
Der Lebenspartner hat schon seit langem den Wunsch, sich von ihr zu trennen, da er mit der Erkrankung seiner Partnerin nicht mehr zurechtkommt. Er möchte sie aber auch nicht ihrem Schicksal überlassen. Wer jetzt einen Schritt weiterdenkt, liegt vollkommen richtig. Die ganze Situation ist sehr konfliktlastig und endet häufig in einem zermürbenden Streit, der nach der Eskalation keine Möglichkeiten der Lösung aufbietet, sondern die Hoffnungslosigkeit nährt. Ein Hamsterrad ohne Anfang und Ende.
Da sich Berta in der eigenen Wohnung „verschanzt“ hat, ist es ihr auch nicht möglich, das Haus für Arztbesuche zu verlassen. Bis vor kurzem hat sie noch einen Psychiater gehabt, bei dem sie, zwar ungewöhnlich, aber per Post (Versicherungskarte, Anschreiben, welche Medikamente sie benötigt und Rückumschlag) ein Rezept für die benötigten Psychopharmaka erhalten hat. Das Rezept wurde dann von ihrem Partner oder mir in der Apotheke eingelöst.
Bis hierhin sollte es eigentlich genügen, die derzeitige Situation zum Verständnis aller zu beschreiben.
Vor einigen Wochen hat Berta Post vom Amt erhalten. Ihr Personalausweis ist schon seit Monaten abgelaufen und sie wurde angemahnt, diesen zügig zu erneuern. Heutzutage muss der Ausweisinhaber schon alleine wegen der Fingerabdrücke, selbst erscheinen. Berta geriet von der Angst in Panik, die kaum zu bändigen war. Wochenlange Vorbereitung und Sisyphusarbeit waren notwendig, denn Berta musste nun die Wohnung verlassen, ob sie wollte oder nicht. Den ersten Termin konnte sie, trotz vieler Bemühungen nicht schaffen. Es gab „100.000 Gründe“ dafür. Da sie aber nicht darum herum kam, haben wir einen weiteren Termin vereinbart.
Sie wurde gebeten, in der Woche vor dem Termin, Kleidung zurechtzulegen, diese anzuprobieren und die nötigen Hygienemaßnahmen durchzuführen, damit sie keine Ängste ausstehen muss, unnötig aufzufallen. Im „normalen Alltag“ weiß schon ein jeder, dass gute Vorbereitung die „halbe Miete“ ist. Bei ihr war es nochmal viel wichtiger, um ihr ein wenig Selbstsicherheit zu geben, um den Weg zum Bürgeramt zu schaffen.
Ich parkte direkt vor der Haustüre, holte sie oben an der Wohnungstüre ab und fuhr mit ihr zum Amt. Erschwerend kam es dann hinzu, dass wir einige Wartezeit in Kauf nehmen mussten. Berta ist mir keine Sekunde von der Seite gewichen und hat es letztendlich geschafft, die riesengroße Hürde zu überwinden. Für den Moment… Für jeden weiteren Schritt, jede weitere Aufgabe wird sich das Procedere wiederholen. Aber für heute kann Berta sehr stolz auf sich sein. Sie hat etwas geschafft, was für sie ein zentnerschwere Belastung bedeutete, für andere ein kleines Sandkörnchen, welches wir mit sanftem Pusten, lächelnd in die Wüste zurückschicken. Also, in diesem Sinne…
Passt gut auf euch auf und achtet darauf, dass ihr eure Ängste diktiert und nicht andersherum 😉

Euch allen wünsche ich einen gesegneten und entspannten Feiertag!

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